Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 12 (2002) |
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Galt noch Mitte des letzten Jahrhunderts das »folgsame Kind« als Leitbild der Erziehung, so ist dieses heute weitgehend abgelöst worden durch ein Ideal, das die Selbständigkeit des Kindes ins Zentrum der pädagogischen Bemühungen stellt. Das Bild des »selbständigen Kindes« steht auch in einem deutlichen Spannungsverhältnis zu althergebrachten psychoanalytischen und pädagogischen Theorien. Vor diesem Hintergrund ergeben sich die Fragestellungen des vorliegenden Bandes: Wie ist die erzieherische Norm der Selbständigkeit einzuschätzen? Welche Form von Selbstständigkeit kann als sinnvolle Herausforderung oder aber als unsinnige Überforderung gelten? Welche Entwicklungsprozesse von Kindern können besser verstanden werden, wenn man sie als Prozesse der Selbstbildung und Selbständig-Werdens begreift? Sind Kindheit und Kindlichkeit nur noch Störfaktoren auf dem Weg der fortschreitenden Modernisierung oder doch ein Raum der besonderen kindlichen Subjektivität, die des Schutzes und der Fürsorge bedarf? Ein Literaturbericht ist überdies dem Thema der »präödipalen Triangulierung« gewidmet. Inhalt des Jahrbuchs für Psychoanalytische Pädagogik 12 (2002):Eggert-Schmid Noerr, Annelinde: Das modernisierte Kind. Einleitung in den Themenschwerpunkt. In: Datler, W., Eggert-Schmid, Noerr, A., Winterhager-Schmid, L. (Hrsg.): Das selbständige Kind. Psychosozial-Verlag: Gießen, 2002 [Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 12], 9-14 Abstract: Ausgehend von einem Fallbeispiel wird verdeutlicht, dass Selbständigkeit eine erzieherische Norm darstellt, die heute – zumindest in bestimmten Lebensbereichen – viel mehr Gewicht hat als noch vor wenigen Jahrzehnten. Selbständigkeit ist aber auch zu einem Strukturprinzip der Analyse und Erklärung kindlicher Entwicklung und Weltbewältigung avanciert: Prägungen der Umwelt treten dabei ebenso in den Hintergrund wie innere Entwicklungskräfte, während die handelnde Auseinandersetzung mit der Welt, die aktive Bewältigung von Angeboten wie auch von Schwierigkeiten und Krisen in den Vordergrund tritt. An die Stelle des prinzipiell gefährdeten Kindes tritt nun das mit vielfältigen Kompetenzen ausgestattete Kind, das sich im Dickicht der postmodernen Lebenswelt überraschend souverän zurechtfindet, sich unter Bedingungen zunehmender Individualisierung der Lebensentwürfe seine eigenen Orientierungen schafft und Entscheidungen trifft. Es wird die Frage aufgeworfen, ob in diesem Bild von Kind und Kindheit bedeutsame Aspekte der Fürsorge- und Schutzbedürftigkeit von Heranwachsenden vernachlässigt werden und in welchem Verhältnis dieses Bild zu zentralen Positionen der psychoanalytischen Entwicklungstheorie steht. Ein Ausblick auf die Auseinandersetzung mit diesen Themen, die in den weiteren Beiträgen des Bandes nachzulesen sind, wird gegeben. Winterhager-Schmid, Luise: Die Beschleunigung der Kindheit. In: Datler, W., Eggert-Schmid, Noerr, A., Winterhager-Schmid, L. (Hrsg.): Das selbständige Kind. Psychosozial-Verlag: Gießen, 2002 [Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 12], 15-31 Abstract: Unter Bezugnahme auf den 10. Kinder- und Jugendbericht wird die gegenwärtige Diskussion der Kindheitsforschung, die das Thema der Selbständigkeit von Kindern betrifft, referiert. Dabei werden zwei, miteinander konkurrierende Kindheitsmuster einander gegenübergestellt: das Kindheitsmuster des modernen Kindes als kompetenten Akteurs seiner Lebenswelt und jenes des in besonderem Maße durch die Moderne bedrohten Kindes. Modernisierer und gemäßigte Traditionalisten gehen beide davon aus, dass Kindheit heute immer weniger in den traditionell vorgegebenen Bahnen verläuft und statt dessen zunehmend durch die Eigenstrukturierung von Lebensentscheidungen geprägt ist. In der Bewertung dieser Beobachtungen zeigen sich freilich erhebliche Unterschiede. Die Kritik der Autorin gilt insbesondere dem problematischen Übergang von empirischen Befunden einer hochmodern-individualisierten Kindheit zu einem, in die gesellschaftliche Zukunft hinein verlängerten Trend und einer damit einhergehenden Verkündung von Selbständigkeit als einer allgemeinen Norm. Was dieser nicht entspricht, erscheint als rückständig. Demgegenüber gilt es, daran festzuhalten, dass einer gelungenen Selbständigkeit die Erfahrung von Geborgenheit und Verlässlichkeit innerhalb früherer Abhängigkeit und Unselbständigkeit vorausgehen muss. Göppel, Rolf: Frühe Selbständigkeit für Kinder – Zugeständnis oder Zumutung? In: Datler, W., Eggert-Schmid, Noerr, A., Winterhager-Schmid, L. (Hrsg.): Das selbständige Kind. Psychosozial-Verlag: Gießen, 2002 [Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 12], 32-52 Abstract: Die These von der immer größer werdenden Selbständigkeit moderner, individualisierter Kinder stellt ein zentrales Postulat in der jüngeren Diskussion über Kindheit dar. Ausgehend von einem konkreten Beispiel wird zunächst die Frage von Selbständigkeitsgewährung und Selbständigkeitszumutung als pädagogisches Basisthema veranschaulicht. Dann wird der Frage nachgegangen, wie das Thema „Selbständigkeit“ in der Entwicklungspsychologie, in der psychoanalytischen Kinderpsychologie und in der neueren, stärker soziologisch geprägten Kindheitsforschung behandelt wird. In diesem Zusammenhang wird auf die Mehrdeutigkeit und Ambivalenz von „Selbständigkeit“ eingegangen. Am Beispiel zweier autobiographischer Episoden wird schließlich gezeigt, dass die pauschale Behauptung der Zunahme von Selbständigkeit so nicht haltbar ist, sondern dass unterschiedliche Formen von Selbständigkeit unterschieden werden müssen. Datler, Wilfried, Ereky, Katharina, Strobel, Karin: Alleine unter Fremden. Zur Bedeutung des Trennungserlebens von Kleinkindern in Kinderkrippen. In: Datler, W., Eggert-Schmid, Noerr, A., Winterhager-Schmid, L. (Hrsg.): Das selbständige Kind. Psychosozial-Verlag: Gießen, 2002 [Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 12], 53-77 Abstract: In Kinderkrippen wird einer zunehmenden Zahl von Kleinkindern abverlangt, ohne Unterstützung durch vertraute Familienmitglieder über mehrere Stunden hinweg mit anderen Kindern und Erwachsenen zu Recht zu kommen. Die Autoren gehen der Frage nach, was es für Kleinkinder bedeuten mag, auf diese Weise von ihren engsten Bezugspersonen temporär getrennt zu werden. Sie referieren jüngere Ergebnisse der Bindungsforschung, weisen auf die Grenzen empirisch-statistischer Forschung hin, plädieren für die Miteinbeziehung von Einzel-Falldarstellungen und berichten von einem knapp zweijährigen Buben, der in seiner Familie, aber auch in der Kinderkrippe regelmäßig eine Stunde lang nach der von E. Bick am Londoner Tavistock Center entwickelten Methode der Infant Observation beobachtet werden konnte. Die Autoren verdeutlichen an diesem Beispiel, wie schmerzlich Kleinkinder das Getrennt-Sein von ihren vertrauten Bezugspersonen erleben; dass sie fürsorglich-verstehende Unterstützung und Begleitung dabei benötigen; und wie undifferenziert öffentliche Diskussionen zu diesem Thema geführt werden, die dazu tendieren, die Trennungsängste und Trennungs-Schwierigkeiten von Kleinkindern in ihrer Intensität zu leugnen und somit auch zu verkennen, dass Kinder in diesem Prozess der Separation und des Selbständigwerdens spezifischer Hilfen bedürfen. Hoanzl, Martina: Vom Land, in dem es keine Eltern gibt. Geschwisterliche Themen und deren mögliche Bedeutung im Prozeß des Heranwachsens. In: Datler, W., Eggert-Schmid, Noerr, A., Winterhager-Schmid, L. (Hrsg.): Das selbständige Kind. Psychosozial-Verlag: Gießen, 2002 [Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 12], 78-101 Abstract: Geschwisterbeziehungen prägen sowohl zahlenmäßig als auch strukturell bzw. psychodynamisch den Prozess des Heranwachsens. Umso verwunderlicher ist es, dass die Wissenschaft dieses Phänomen kaum in den Blick nimmt. Ausgehend von einer Geschwisterphantasie, die Hans Zulliger in seinem Band „Heilende Kräfte im Kindlichen Spiel“ einem breiten Leserkreis vorgestellt hat, soll die Bedeutung geschwisterlicher Bündnisse für die kindliche Entwicklung beleuchtet werden. In ihrer schillernden Phantasiewelt imaginieren Geschwisterkinder ein Land, in dem es keine Eltern gibt, in dem sie ohne Mutter und Vater bestehen können. Grandiose Vorstellungen von kindlichen Fähigkeiten spielen dabei eine wichtige Rolle. Der Beitrag zeigt, dass geschwisterliche Zusammenschlüsse und Geschwisterphantasien eine gedeihliche Basis für Kompetenzerfahrungen bilden. Gemeint sind Erfahrungen, deren innerster Kern von einem Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten geprägt ist. Die geschwisterliche Gegenwelt zur Allgegenwart der Eltern zeigt auf, dass sich Kinder in einem generativen Sinne zwar nicht selbst erschaffen können, dass sie aber gegenseitig wesentlich zu ihrer Konstituierung beitragen. Kinder können auch die notwendigen Bedingungen ihres Aufwachsens nicht selbst schaffen, sie können diese Bedingungen jedoch modellieren. Sie sind zweifelsohne auf „Große“ angewiesen, aber sie bedürfen ebenso einer kindlichen Gegenwelt. Müller, Burkhard: Wie der „aktive Schüler“ entsteht. Oder: „From learning for love to the love of learning“.Ein Vergleich von Ansätzen Fritz Redls, Rudolf Eksteins und Ulrich Oevermanns. In: Datler, W., Eggert-Schmid, Noerr, A., Winterhager-Schmid, L. (Hrsg.): Das selbständige Kind. Psychosozial-Verlag: Gießen, 2002 [Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 12], 102-119 Abstract: Während psychoanalytische Kompetenzen im Rahmen der Pädagogik herkömmlicher Weise besonders dort eingefordert wurden, wo es die Pädagogik mit psychischen Störungen des Lernens und der Entwicklung zu tun bekommt oder wo sie entsprechende prophylaktische Ziele verfolgt, untersucht der Autor den möglichen Beitrag der Psychoanalyse zum Begreifen der sozialen Orte von Kindern und Jugendlichen sowie zur positiven Gestaltung einer pädagogischen Situation, in der die emotionale Besetzung der Inhalte des Lernens und des Lernens selbst gefördert wird. Er tut dies in kritischer Auseinandersetzung mit Ulrich Oevermanns Theorie professionalisierten pädagogischen Handelns, derzufolge pädagogisch professionell Tätige eine ähnliche Art von Kompetenz brauchen, wie sie für die psychoanalytische Therapie erforderlich ist. Den Mängeln dieser nur unter idealisierten Bedingungen geltenden Auffassung stellt der Autor zwei ältere einschlägige Texte Redls und Eksteins gegenüber, die er als konzeptionelle Bausteine einer Theorie pädagogischen Handelns rekonstruiert. Deutlich wird (im Anschluss an Redl), welche selbständigen Ich-Leistungen von Schülern gefordert werden und wie sie dabei unterstützt werden sollten. Darüber hinaus geht es (im Anschluss an Ekstein) um die Ablösung von äußerlichen Kontrollen und die wachsende Selbstkontrolle durch die Lernenden selbst, für welche verschiedene Schritte der Identifizierung (etwa der Schüler und der Lehrer mit dem Curriculum und der Institution Schule) unverzichtbar sind. Schäfer, Gerd E.: Selbst-Bildung in der frühen Kindheit als Verkörperung von Erkenntnistheorie. In: Datler, W., Eggert-Schmid, Noerr, A., Winterhager-Schmid, L. (Hrsg.): Das selbständige Kind. Psychosozial-Verlag: Gießen, 2002 [Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 12], 120-150 Abstract: Der Beitrag untersucht die Literatur zur Säuglings- und Kleinkindforschung unter einem bildungstheoretischen Blickwinkel als Selbst-Bildungs-Prozess. Dabei wird herausgearbeitet, dass das Kind in der Interaktion mit seiner Umwelt sich eine präreflexive Erkenntnistheorie einverleibt, in der sich biologische, individuelle, biographische, soziale und kulturelle Vorgaben vereinen. Das Kind entwickelt ein Körperselbst, vom dem vier Aspekte genauer dargestellt werden. Dieses versetzt das Kind in die Lage, seine Wahrnehmungserfahrungen so weit zu strukturieren, dass sie gedacht werden können. Die präreflexive, verkörperte Erkenntnistheorie ist einerseits ein Werk der Eigentätigkeit des Kindes, als solches jedoch andererseits das Produkt der Auseinandersetzung mit den gegebenen Bedingung der sozialen und kulturellen Welt, in die das Kind hineingeboren wurde. Das bedeutet, dass dieser Prozess der Selbst-Bildung überhaupt nicht ohne die Gegebenheiten und Strukturen der jeweiligen Umwelt gedacht werden kann, da spätestens mit der Geburt die biologischen Basisprogramme des Kindes im kommunikativen Austausch mit der sozialen Umwelt differenziert, auf die jeweils gegebenen soziokulturellen Bedingungen abgestimmt werden. Diese biographisch in den ersten Lebensjahren erworbene präreflexive Erkenntnistheorie bildet die Grundlage, von der sein späteres sprachliches und nichtsprachliches Denken - zumeist unhinterfragt - ausgeht. Deshalb ist es notwendig, den konkreten Bedingungen dieser Selbst-Bildungs-Prozesse Aufmerksamkeit zu schenken und Kinder in geeigneter Weise dabei zu unterstützten.
LiteraturumschauEreky, Katharina: Präödipale Triangulierung. Zur psychoanalytischen Diskussion um die Frage des Entstehens der frühen familiären Dreiecksbeziehungen. In: Datler, W., Eggert-Schmid, Noerr, A., Winterhager-Schmid, L. (Hrsg.): Das selbständige Kind. Psychosozial-Verlag: Gießen, 2002 [Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 12], 151-177 Abstract: Im Zentrum dieser Literaturumschau stehen psychoanalytische Publikationen, in denen die Entstehung der frühen familiären Dreiecksbeziehungen diskutiert wird. Der Fokus der Überlegungen liegt dabei auf der Frage, wie ein Kind in den ersten Lebensjahren das Dreieck Mutter-Vater-Kind wahrzunehmen und zu erleben beginnt. In diesem Kontext wird der Blick zunächst auf jene Arbeiten gerichtet, in denen der Weg des Kindes aus der Mutter-Kind-Dyade in die Triade erörtert wird. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei Veröffentlichungen zur Bedeutung, die dem Vater in diesem Prozess zukommt, geschenkt. Anschließend wird anhand ausgewählter Beiträge die Diskussion um die Frage danach, ob die Beziehungsentwicklung eines Kindes nicht als von Anfang an rein triadische gesehen werden müsste bzw. in welchem Verhältnis frühe triadische Beziehungen zur Mutter-Kind-Dyade stehen könnte, nachgezeichnet. Anhand psychoanalytischer Arbeiten, welche die Ausbildung triangulärer Strukturen als Entwicklungsaufgabe betrachten, wird darüber hinaus dargestellt, welche Bedeutung in diesem Prozess zum einen der Mutter, zum zweiten der positiven elterlichen Beziehung und zum dritten dem (real anwesenden) Vater zugesprochen wird. Almeder, Natascha und Desch, Barbara: Über aktuelle Publikationen zu verschiedenen Fragestellungen Psychoanalytischer Pädagogik. In: Datler, W., Eggert-Schmid, Noerr, A., Winterhager-Schmid, L. (Hrsg.): Das selbständige Kind. Psychosozial-Verlag: Gießen, 2002 [Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 12], 178-203 Abstract: Traditionsgemäß wird das Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik mit einem Literaturumschauartikel abgerundet, in welchem ein Überblick über aktuelle Veröffentlichungen zu psychoanalytisch-pädagogischen Themen und Fragestellungen gegeben wird. Die Beiträge werden im Rahmen der folgenden thematischen Schwerpunkte referiert: (1.) Publikationen zu grundlegenden und historischen Fragestellungen Psychoanalytischer Pädagogik; (2.) Jüngere Literatur zu verschiedenen Praxisbereichen Psychoanalytischer Pädagogik; (3.) Beiträge zu entwicklungspsychologischen und sozialisationstheoretischen Fragestellungen; (4.) Veröffentlichungen zu weiteren Themenstellungen mit psychoanalytisch-pädagogischer Relevanz.
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